„Ich war kühn, aber nicht frevelhaft“
Das Leben der Caroline Schlegel-Schelling, 1763–1809
Autorin: Marianne Thoms
Redaktion: Udo Zindel
Regie: Dr. Stefan Hilsbecher
Original Broadcast: Südwestrundfunk 2 on 21 May 2010
Caroline: Wer kennt mich, wie ich bin – wer kann mich kennen? Man hält mich für ein verworfenes Geschöpf und meint, es sei verdienstlich, mich vollends zu Boden zu treten. Gleichwohl: Ich war kühn, aber nicht frevelhaft!
Ansagerin: Das Leben der Caroline Schlegel-Schelling, 1763 bis 1809. Eine Sendung von Marianne Thoms.
Sprecher: Kaum eine andere Frau polarisiert ihre Zeitgenossen so stark wie sie. Widersacher nennen Caroline das „schändlichste aller Geschöpfe“. So genannte Freundinnen verleumden sie als „Dirne“. Bewunderer preisen sie als „seltenes Weib von politischerotischer Natur“. Männer fürchten ihren scharfen Verstand; Frauen beneiden sie, weil sie sich die Freiheit nimmt zu leben.
Caroline: Göttern und Menschen zum Trotz will ich glücklich sein.
Sprecher: Carolines Leben beginnt am 2. September 1763 in Göttingen, im Haus des weithin gerühmten Orientalisten Johann David Michaelis. Der Vater ist Universitätsprofessor und empfängt in seinem komfortablen Heim so prominente Gäste wie den amerikanischen Staatsmann Benjamin Franklin, Goethe und Lessing, den Weltreisenden Georg Forster, auch den Naturforscher Alexander von Humboldt, der findet:
Zitator: Das Haus des Michaelis ist sehr angenehm. Es herrscht ein freier, ungenierter Ton darin. Ich bin oft da.
Sprecher: Michaelis fördert die geistige Entwicklung seiner Tochter, spricht oft mit ihr, gibt ihr
viele Bücher zu lesen. Eckart Klessmann, der Carolines Leben in seiner Biographie erkundet hat, erzählt:
Eckart Klessmann: Das Wichtigste war, dass ihr Vater es für richtig gehalten hat, Söhne und Töchter in gleicher Weise zu erziehen. Es gab ja auch keine Schulpflicht wie heute, sondern sie sind durch Hauslehrer erzogen worden. Caroline hat mehrere Sprachen gelernt. Der Vater hat ihr seine große Bibliothek zugänglich gemacht. Sie hat keinerlei Einschränkungen erfahren, was die Bildung angeht, im Gegensatz zu den meisten Frauen der damaligen Zeit.
Caroline: Ich würde, wenn ich ganz mein eigener Herr wäre, weit lieber gar nicht heiraten und auf andere Art der Welt zu nutzen suchen.
Sprecher:Der Porträtmaler Friedrich August Tischbein zeigt auf seinem Gemälde Carolines Anmut im leicht geneigten, von kastanienbraunen Locken umrahmten Gesicht, mit dunklen ausdrucksvollen Augen. Und er schwärmt:
Zitator: Ihre kleine Gestalt ist so graziös, wie ihr ganzes Wesen. In dem Antlitz liegt so viel Einnehmendes, in ihren Augen leuchtet so viel Geist und ihre Lippen zeigen, wenn sie sich öffnen, so schöne Zähne, dass man die maßlose Neigung vieler Männer begreift.
Sprecher: Im Sommer 1784 wird Caroline verheiratet. Der Vater gibt sie an den zehn Jahre älteren Arzt Wilhelm Böhmer, den sie seit Kindertagen aus der Nachbarschaft kennt. Sie mag ihn wegen seines zuverlässigen Charakters, aber sie liebt ihn nicht. Nach der Heirat muss sie dem Bergmedicus nach Clausthal im Harz folgen, wo Böhmer praktiziert.
Caroline: Meine Zärtlichkeit für Böhmer trägt nicht das Gepräge auflodernder Empfindungen . . .
Sprecher: . . . gesteht sie und beklagt die Einöde:
Caroline: Mit Trauer seh ich den Schnee, die Scheidewand zwischen mir und der Welt. Mein Herz ist ein unwirtbares Eiland.
Sprecher: Caroline führt in Clausthal ein geistig unerfülltes Leben. Sinn geben ihr die im zweijährigen Abstand geborenen Töchter Auguste und Therese, die sie mit Liebe umsorgt. Sie ist zum dritten Mal schwanger, als sich ihr Leben überraschend wendet: Ihr Mann stirbt an einer Blutvergiftung. Mit ihren beiden Töchtern kehrt die noch schwangere junge Witwe zurück ins Göttinger Elternhaus. Schon kurz nach der Geburt stirbt ihr kleiner Sohn, wie so viele Neugeborene in jener Zeit. Um ihre beiden Mädchen dem zudringlichen Einfluss der Großmutter zu entziehen, sucht Caroline vorübergehend Zuflucht bei ihrem Bruder Fritz in Marburg. Dort stirbt zu ihrem Entsetzen auch ihre zweitgeborene Tochter Therese, die sie zärtlich Rose nennt.
Caroline: Einmal zog sie meine Hand fest an ihr Herz, und ich verblendete mich noch über dieses Zeichen – doch meine Rose wurde still.
Sprecher: Tieftraurig, aber begabt darin, neue Kraft aus sich selbst zu schöpfen, folgt Caroline nun dem unwiderstehlichen Drang, frei und nach eigenen Vorstellungen zu leben. Einen Heiratsantrag des Gothaer Superintendenten Löffler schlägt sie aus. Die Werbung Wilhelm Schlegels, der später als Shakespeare-Übersetzer berühmt wird, weist sie lachend zurück:
Caroline: Nein, das ist sicher – aus uns wird nichts!
Sprecher: Im Frühjahr 1792 folgt sie mit Tochter Auguste der Einladung ihrer Jugendfreundin Therese nach Mainz, wo der Geist der Französischen Revolution zu spüren ist. Sie erinnert sich an ein übermütiges Gedankenspiel, das sie schon Wochen vor dem Sturm auf die Pariser Bastille 1789 einem Brieffreund angetragen hatte:
Caroline: Lassen Sie uns einmal eine Bande zusammen machen, einen geheimen Orden, der die Ordnung der Dinge umkehrt: So möchten denn die Reichen abtreten und die Armen die Welt regieren.
Sprecher: Carolines Freundin Therese ist in Mainz mit Georg Forster verheiratet, dem Mann, der einst die Welt umsegelte und Caroline bei einem Besuch im Michaelis-Haus ein Tuch aus Tahiti schenkte. Nun hat er sich mit Haut und Haaren den Ideen der Französischen Revolution verschrieben. Ein kühner Gedanke liegt in der Luft:
Warum soll aus dem absolutistischen Mainzer Kurfürstentum nicht ein erstes republikanisches Beispiel auf deutschem Boden entstehen? Caroline ist beeindruckt:
Caroline: Wir sind doch in einem höchst interessanten politischen Zeitpunkt, und das gibt mir, außer den klugen Sachen, die ich abends an Forsters Teetisch höre, gewaltig viel zu denken.
Sprecher: Als die Monarchien Preußens und Österreichs zum konterrevolutionären Waffengang gegen das bürgerliche Frankreich aufmarschieren, meint sie entschieden:
Caroline: Für das Glück der kaiserlichen und königlichen Waffen wird freilich nicht gebetet – die Despotie wird verabscheut.
Sprecher: Aufmerksam verfolgt sie den Gegenschlag der französischen Revolutionsarmee, die schon bald am Rhein steht. Der Mainzer Kurfürst, der seit 1774 von den Untertanen jährlich 1,3 Millionen Steuer-Gulden kassierte, der Bauern in Leibeigenschaft und Handwerker und Kaufleute in strenger Abhängigkeit gehalten hatte, flieht Hals über Kopf vor dem französischen General Custine und seinen sansculottischen Soldaten. Die Stadt gehört den Revolutionären, die gesellschaftliche Umgestaltung kann beginnen. Vom Besuch des französischen Generals Custine in Forsters Haus ist Caroline angetan. Doch als sie an dessen Seite, gewissermaßen in der Rolle eines Sekretärs, ihren zwielichtigen Schwager Georg Böhmer bemerkt, ist sie irritiert:
Caroline: Wollt und könnt Ihr den wirklich brauchen? Die sich bei solchen Gelegenheiten vordrängen, sind nie die Besten!
Sprecher: Schritt für Schritt erweitert die junge Frau ihr demokratisches Denken. Der Biograph Eckart Klessmann betont den Einfluss Georg Forsters auf Caroline:
Eckart Klessmann: Die Französische Revolution und deren Ideen, die sie im Hause von Georg Forster kennen gelernt hat, haben ihr plötzlich den Blick geöffnet für die sozialen Probleme, von denen sie – Professorentochter aus vermögendem Hause kommend – wenig gewusst hat. Aber plötzlich sieht sie durch die Französische Revolution, welche Rechte den Deutschen damals vorenthalten worden sind. Und Caroline muss dieses Engagement für Schichten, die bisher von der politischen oder gesellschaftlichen Willensbildung ausgeschlossen waren, ganz besonders fasziniert haben. Sie hatte sich vorher damit nicht beschäftigt.
Sprecher: Den Spott aus der Göttinger Heimat über ihre revolutionäre Begeisterung pariert Caroline entrüstet:
Caroline: Können Sie im Ernst darüber lachen, wenn der arme Bauer, der drei Tage von vieren für seine Herrschaften den Schweiß seines Angesichts vergießt, fühlt, im könnte, ihm sollte besser sein? Von diesem einfachen Gesichtspunkt gehen wir aus.
Sprecher: Sie sagt nun „wir“, sie fühlt sich zugehörig. Tadelnde Briefe von Wilhelm Schlegel, der zugleich sein Heiratsangebot erneuert, lassen sie ungerührt. Nach französischem Vorbild wird in Mainz ein Jakobiner-Club gegründet. Caroline ist stolz auf Forster, der bald den Vorsitz übernimmt. Sie selbst kann nicht Mitglied werden, denn das Statut schließt Frauen aus. Aber sie ist mit ihrer Tochter Auguste dabei, als auf dem Mainzer Marktplatz ein Freiheitsbaum gepflanzt wird, als Adelsbriefe und die monarchistische deutsche Reichsverfassung ins Feuer geworfen werden, während Tausende die Marseillaise singen und die Carmagnole tanzen. Auch Caroline tanzt die Carmagnole. In den Armen des französischen Offiziers Jean Baptist Cranzé, den sie bei Forster kennen gelernt hat, erlebt sie – nach späterem Bekenntnis – eine „Nacht der Glut“. Fast ein halbes Jahrzehnt hat sie sexuell enthaltsam gelebt. Alle ihr eingeschärften Moralauffassungen verlieren in dieser Nacht ihre Gültigkeit. Sie nimmt sich ein weiteres Mal das Recht auf ein selbst bestimmtes Leben.
Kurz danach entscheidet sich diese junge Mainzer Republik zu ihrem Schutz für einen Anschluss an Frankreich. Doch noch während Forster dieses Ansinnen in Paris vorträgt, besetzen gegenrevolutionäre preußische Truppen das Rheinland von Bingen bis Worms und beginnen mit der Belagerung von Mainz. Vier Monate werden die Revolutionäre im Verein mit französischen Truppen ihr mutiges Experiment verteidigen, bevor die Stadt im Feuerhagel der Granaten aufgeben muss.
Währenddessen herrscht konterrevolutionäre Lynchjustiz. Die Preußen fangen Flüchtlinge und misshandeln sie. Jeder Fliehende wird verdächtigt, ein Mainzer Jakobiner zu sein. Unter den Belagerern ist an der Seite seines Weimarer Herzogs auch Johann Wolfgang von Goethe, der bezeugt:
Zitator: Man schleppt einen Aufgegriffenen auf den nächsten Acker, zerstößt und verprügelt ihn fürchterlich; alle Glieder seines Leibes sind zerschlagen, sein Gesicht unkenntlich.
Sprecher: Auch Caroline wird bedroht. Mit ihrer Tochter Auguste wird sie von preußischen Vorposten bei Oppenheim aus ihrem Fluchtwagen gezogen und streng verhört. Caroline Böhmer? Etwa die Frau des berüchtigten Franzosensekretärs Georg Böhmer? Sie könnte ja auch die Geliebte des Hochverräters Georg Forster sein und darum gut als Austauschgeisel herhalten. Oder war sie gar die Mätresse des Franzosengenerals Custine? Vage Verdächtigungen reichen aus, um Caroline mit ihrer kleinen Tochter monatelang auf der gefürchteten Festung Königstein einzusperren. In dieser Schreckenszeit bemerkt Caroline, dass sie schwanger ist. Eingesperrt in einem Raum mit sieben anderen Frauen wächst mit jedem Festungstag ihre lähmende Angst, entdeckt zu werden. Sie kennt die Gesetze, man würde ihr die achtjährige Auguste wegnehmen. Sie kann sich nichts Schlimmeres vorstellen, sagt Eckart Klessmann:
Eckart Klessmann: Sie war also Witwe und nach der Meinung der damaligen Gesellschaft zu einem besonders sittsamen Lebenswandel verpflichtet. Dass sie ein uneheliches Kind bekam, wobei man noch nicht einmal gewusst hat, dass es auch noch das Kind eines Besatzungsoffiziers war, bedeutete: Sie führte einen unmoralischen Lebenswandel. Und nach der damaligen Gesetzgebung wäre es möglich gewesen, ja war es sogar sehr wahrscheinlich, dass man ihr die Pension aberkannt hätte und mehr noch, man hätte die Möglichkeit gehabt, ihr das Kind wegzunehmen, unter der Maßgabe, die Mutter führe eine seelisch verwahrloste Existenz, die sich ungünstig auf die Erziehung des Kindes auswirken würde.
Sprecher: Auch keiner der Verwandten und Freunde, die Caroline brieflich anfleht, bei den Behörden ihre schnelle Freilassung zu erwirken, darf von der Schwangerschaft erfahren. Die Zeit arbeitet gegen sie. Endlich – sie ist bereits im fünften Monat – kommt Hilfe. Durch eine Bittschrift an den preußischen König erreicht ihr jüngster Bruder, dass Mutter und Tochter am 11. Juli 1793 freigelassen werden. Und noch ein anderer hilft: Der wiederholt als Heiratskandidat abgewiesene Wilhelm Schlegel bringt die werdende Mutter unter falschem Namen ritterlich und noch immer verliebt nach Lucka bei Leipzig. Einziger Besucher der werdenden Mutter ist Wilhelm Schlegels Bruder Friedrich, der sich während dessen dienstlicher Abwesenheit um Caroline kümmern soll. Der junge Philosoph wird später zum führenden Kopf der Jenaer Frühromantiker. Jetzt zeigt er sich von der Würde der Frau, von ihren Erfahrungen im revolutionären Mainz und ihrer erlittenen Festungshaft tief bewegt. Seinem Bruder schreibt er:
Zitator: Welch ein Weib: Schärfster Geist mit der Weichheit des zartesten, liebevollsten
Herzens finden sich in ihr vereinigt!
Sprecher: Anfang November bringt sie einen Sohn zur Welt, das Kind „der Glut und Nacht“:
Caroline: Wenn ich die Folge vor mir sehe – kann ich den Ursprung bereuen?
Sprecher: Ihr weiterer Lebensentwurf ist allerdings voller Ungewissheiten. Wohin soll sie gehen?
Caroline: Hätte ich eine Hütte in einer freundlichen Gegend – ich verstünde so gut allein zu leben mit meinen Kindern.
Sprecher: Nach drei Monaten gibt sie ihren Sohn vorübergehend in Pflege. Wegen der herrschenden Moral kann sie ihn zunächst nicht bei sich behalten. Sie ahnt nicht, dass er bald an einer Kinderkrankheit sterben wird. Ihr Versuch, mit Tochter Auguste für eine Weile bei treuen Freunden in Gotha unterzukommen, endet damit, dass die städtische Gesellschaft das Haus wegen der „unpatriotischen Besucherin“ zu meiden beginnt. Aufgrund ihrer Mainzer Vergangenheit will man sie auch in der Heimatstadt Göttingen nicht mehr haben und erteilt ihr ein lebenslanges Aufenthaltsverbot. Bitter klagt die Verfemte:
Caroline: Ich bin ja ausgestoßen. Das politische Urteil, das hier so schneidend ist wie an irgendeinem Ort, gilt als Vorwand, um sich erklärt von mir abzuwenden. Meine Existenz in Deutschland ist hin.
Sprecher: Friedrich Schlegel drängt nun seinen Bruder Wilhelm, die unglückliche Frau möglichst schnell zu heiraten, mit der Begründung:
Zitator: Carolines politische Lage würde dadurch ganz verändert werden. Mit einem neuen Namen würde sie eine neue Person annehmen.
Sprecher: Und Caroline? Soll sie sich noch einmal binden? Sie begreift, dass ihr Versuch, unabhängig zu leben, an den politischen und moralischen Zwängen der Zeit gescheitert ist. Sie achtet den begabten Philologen, aber sie liebt ihn nicht:
Caroline: Schlegel hätte immer nur mein Freund sein sollen, wie er es sein Leben hindurch so redlich, oft so sehr edel gewesen ist. Es ist zu entschuldigen, dass ich nicht standhafter in dieser Überzeugung war.
Sprecher: Als sie das gesteht, ist sie schon Wilhelm Schlegels Frau. Für Eckart Klessmann ist diese Entscheidung schlüssig:
Eckart Klessmann: Also vor der Mainzer Zeit, solange sie allein war und selbständig war und auch materiell gesichert war, da hat sie Heiratsanträge abgewiesen. Jetzt aber ging es darum, unauffällig in die bürgerliche Gesellschaft wieder zurückzukehren. Und das war nur auf dem Weg über eine Heirat möglich.
Sprecher: Das Paar wählt die thüringische Universitätsstadt Jena als Lebens- und Arbeitsort …
Caroline: … ein grundgelehrtes, aber doch recht lustiges Wirtshaus …
Sprecher: … berichtet Caroline übermütig ihren Freunden nach Gotha. Sichtlich belebt schreibt sie auch, dass sie ihrem Mann bei seinem ehrgeizigen Plan, die Werke Shakespeares poetisch gleichwertig zu übersetzen, schnell zur unverzichtbaren Partnerin geworden ist:
Caroline: Ich übersetze jetzt das zweite Stück Shakespeare, Jamben, Prosa, mitunter Reime sogar.
Sprecher: Wilhelm Schlegel erlebt mit Caroline seine schöpferischste Zeit. Sie regt an, arbeitet auch an seinen zahlreichen Rezensionen mit, kritisiert mit Sachverstand und ist zugleich hinreißende Gastgeberin für einen wachsenden Kreis junger Gelehrter und Literaten, der sich bald regelmäßig im Hause Schlegel versammelt. Schwager Friedrich zieht ein, danach auch seine Geliebte Dorothea Veit. Zum geselligen Philosophieren kommen die Dichter Novalis und Ludwig Tieck, der Übersetzer Diederich Gries, der Theologe und Orientalist Paulus, die Philosophen Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Niethammer, die Schriftstellerin Sophie Mereau, der Maler Tischbein und andere.
Eckart Klessmann: Die Romantik setzt auf Entgrenzung, die Romantik setzt auf das Miteinander der Künste, und das setzt natürlich das Aufsprengen der tradierten strengen Formen voraus. Man übersetzt sehr viel, die nationale Begrenzung möchte man sprengen. Es ist bei der Romantik so, als wären da Leute in einem Haus, und das erste, was sie tun, ist, dass sie weit die Fenster aufmachen, damit ganz viel von draußen in dieses Haus hineinkommt.
Sprecher: Warum wird ausgerechnet Caroline Schlegel zum Mittelpunkt dieses Jenaer Frühromantikerkreises?
Eckart Klessmann: Es dürfte wenige Frauen in der damaligen Zeit gegeben haben, die eine solche ungeheure Kenntnis an Literatur und den geistigen Strömungen der Zeit gehabt haben. Dann war es ihr Geschick, Menschen zusammenzuführen, Gespräche anzuregen, es war ihr außerordentliches Selbstbewusstsein, es war ihr Humor, ihr Witz und das außerordentliche Interesse, das sie an dem Bestreben dieser jungen Romantiker nahm.
Sprecher: Mit den Freunden verlacht sie Schillers idealisiertes Frauenbild – „und drinnen waltet die züchtige Hausfrau“ hatte er in der „Glocke“ geschrieben. Aber sie ist auch kritisch im eigenen Kreis. Mit Goethe sagt sie den „Neblern“ und „Schweblern“:
Caroline: Was ihr alle da schaffet, ist mir auch ein rechter Zauberkessel.
Sprecher: Für sie zählt die sinnlich erfahrene Welt. Romantisches Philosophieren über Himmlisches und Irdisches quittiert sie mit dem fröhlichen Ausruf:
Caroline: Ist das Irdische nicht auch wahrhaft himmlisch?
Sprecher: In seinem Romanfragment „Lucinde“ schafft Friedrich Schlegel ein authentisches Abbild der Schwägerin:
Zitator: Bald will sie in Gesellschaft glänzen und tändeln, bald ist sie ganz Begeisterung; bald hilft sie mit Rat und Tat, ernst, bescheiden und freundlich wie eine zärtliche Mutter. Nichts Gutes und Großes ist zu heilig oder zu allgemein für ihre leidenschaftliche Teilnahme. Sie vernimmt jede Andeutung, und sie erwidert auch die Frage, die nicht gesagt ist.
Sprecher: Im nahen Weimar soupiert Caroline mit Goethe und erheitert sich am „kurländischen“ Akzent Gottfried Herders; sie scherzt mit dem alternden Poeten Martin Wieland und genießt die hohe Kunst der berühmten Schauspielerin Corona Schröter. Täglich erfreut sich die nun 34-Jährige am musischen, wild-heiteren Wesen ihrer Tochter Auguste, die mit Charme und Witz schnell zum Liebling des Jenaer Romantikerkreises geworden ist. Als habe dieser Frau nur noch die Erfahrung einer himmelstürmenden Liebe gefehlt, tritt 1798 Friedrich Schelling in ihr Leben. Auf Betreiben Goethes und Schillers wird der in Leonberg geborene Pfarrerssohn als außerordentlicher Professor an die Universität Jena berufen. Vor der begeisterten Studentenschaft brilliert der junge Philosoph mit seiner Naturlehre. Auch die Natur habe Leben und Seele. Sein Grundsatz lautet:
Zitator: Von der Natur komme ich aufs Menschenwerk!
Sprecher: Sein Äußeres ist kraftvoll wie sein Geist. Caroline nennt ihn eine „Urnatur“, als Mineralie betrachtet, einen „echten Granit“, worauf Schwager Friedrich ironisch fragt:
Zitator: Aber wo wird Schelling, der Granit, eine Granitin finden? Wenigstens muss sie doch von Basalt sein.
Sprecher: Hinter Schellings trotziger Männlichkeit erspürt Caroline einen verletzlichen Menschen, der bald ihre Sympathie gewinnt:
Caroline: Ungeachtet ich nicht sechs Minuten mit ihm zusammen bin ohne Zank, ist er doch weit und breit das Interessanteste, was ich kenne.
Sprecher: Wieder bricht die Frau ein Tabu: Gut bürgerlich verheiratet verliebt sie sich in diesen weit jüngeren Mann, zeigt es ihm auch und erfährt seine leidenschaftliche Gegenliebe. Für die Gesellschaft ist das ein Skandal, für die Liebenden der Beginn tiefster Beglückung, aber auch großer Erschütterung. Friedrich Schiller nennt Caroline von nun an die „Dame Luzifer“, klatschhafte Professorenfrauen bezeichnen sie als „lichtscheue Buhlerin“. Eckart Klessmann erzählt:
Eckart Klessmann: Caroline war eine Frau, die polarisierte. Dass sie sich herausnahm, völlig unabhängig und sehr selbstbewusst aufzutreten und nicht daran dachte, sich auf eine von der damaligen Gesellschaft vorgeschriebene Rolle als Frau zu beschränken, das hat natürlich bei sehr vielen und zwar speziell bei Frauen, die nicht so weit waren, Anstoß erregt.
Sprecher: Für Johann Gottlieb Fichte ist der Ehebruch eines Weibes im Gegensatz zum Fehltritt des Mannes unverzeihlich. „Macht denn der Ehemann der Sache nicht bald ein Ende?“ – empört sich der Philosoph. Auch Friedrich Schlegel, der den Liebesbund als unerträgliche Kränkung des älteren Bruders empfindet, fordert ein Machtwort. „Sie durfte das nicht tun!“ – moralisiert seine Geliebte Dorothea Veit, die doch gerade selbst für Friedrich Schlegel aus ihrer langjährigen Ehe ausgebrochen ist. Nur Carolines Mann bleibt gelassen, vielleicht auch wegen seiner eigenen Amouren, die sie stets souverän behandelt hat. Die gehässigen Wogen gegen die Ehebrecher schlagen am höchsten, als Caroline ihren tiefsten Schmerz erfährt: Ihre 15-jährige Tochter Auguste erkrankt im Sommer 1800 an der Ruhr und stirbt.
Caroline: Ich lebe nur noch halb und wandle wie ein Schatten auf der Erde.
Sprecher: Sie ist traumatisiert, verurteilt sich zur Sühne und entzieht sich dem Geliebten. Doch zugleich bittet sie in heimlicher Angst:
Caroline: Wenn Du mich von Dir losmachen wolltest, so würdest Du mein Leben zerreißen. Nichts ist unheilbar für Seelen wie die unsrigen. Ich war kühn, aber nicht frevelhaft.
Sprecher: Schelling schreibt aus Weimar, wo sich Goethe seiner depressiven Stimmung annimmt, sehnsuchtsvolle Briefe, die Caroline in berührender Zärtlichkeit erwidert:
Caroline: Dein Brief hat diese Nacht mit mir geruht, halb mit Schmerz habe ich alle seine Liebe in mich gesogen. Ob ich mich freuen werde, Dich wieder zu sehen? Ja, wahrlich mehr, als ich Dir sagen kann. Komm, Du geliebtester aller Menschen. Ich liebe Dich mit meinem ganzen Wesen.
Sprecher: Inzwischen hat Wilhelm Schlegel Jena verlassen und eine Professur in Berlin angenommen. Ein „freundschaftlich-zärtliches Verhältnis“ zu Caroline werde fortdauern, sagt er einer Freundin, und an Schelling respektiere er dessen überragende Geisteskraft. Wie klein nehmen sich dagegen Dorothea und Friedrich Schlegels weitere Hasstiraden aus: Caroline werde nun in Schellings
Naturphilosophie ebenso panschen wie vorher in Wilhelm Schlegels Poesie. Als sie dann noch behaupten, Caroline habe ja eigentlich ihre Tochter mit Schelling verkuppeln wollen und Augustes Tod sei die Folge vom Eigenanspruch der Mutter gewesen, da entfährt der Tiefverletzten der Aufschrei:
Caroline: Wenn sie nur jemand totschlagen würde, ehe ich stürbe!
Sprecher: Diese Gegensätze im Privaten überdecken nur, woran die Jenaer Frühromantikergruppe schließlich zerbricht: Die weltanschaulichen und ästhetischen Standpunkte der Beteiligten erweisen sich als unvereinbar. Der Kreis ist ausgeschritten. Man trennt sich und geht seiner Wege. Nach einvernehmlicher Scheidung von Wilhelm Schlegel verlässt auch Caroline die Stadt und heiratet am 26. Juni 1803, nach zwei Vernunftehen, endlich den Mann ihrer Liebe. Sie folgt ihm in die Universitätsstädte Würzburg und München – glücklich in ihrer wieder errungenen Kunst zu leben. Derselbe Friedrich Schlegel, der sie einst bewundernd ein „seltenes Weib“ genannt hatte, wünscht nun:
Zitator: Gott gebe, dass der Teufel sie bald holen mag, und zwar mit Lärm nach Standesgebühr; an Gestank wird es ohnehin nicht fehlen.
Sprecher: Caroline hatte hat Friedrich Schlegel in seiner besten Zeit als philosophischen Kopf des Jenaer Romantikerkreises bewundert. Nun fürchtet sie, er könnte zum Ketzerverfolger werden. Sie aber findet Erfüllung in der Ehe mit Schelling, ist ihm Geliebte, Frau, Freundin und Mitarbeiterin zugleich. Über diese Partnerschaft wird der Philosoph Karl Jaspers später sagen:
Zitator: Unter den großen Philosophen ist es nur Schelling, für den eine Frau durch ihre Persönlichkeit von entscheidender Bedeutung wurde, und zwar nicht nur durch erotische Leidenschaft und menschliche Verbundenheit, sondern in eins damit ursprünglich durch ihr geistiges Wesen. Schelling wurde erst durch Caroline gelockert zu der Freiheit und Weite, die er erreicht hat.
Sprecher: Von einer dreitägigen Wanderung, die das Paar Anfang September 1809 unternimmt, kehrt Caroline krank zurück. In wenigen Tagen zerstört die Ruhr ihren zarten Körper. Am 7. September stirbt sie in Maulbronn, wo sich hinter der Klosterkirche auch ihr Grab befindet. Sechsundvierzig Jahre hat Caroline gelebt. Schelling schreibt ihr den schönsten Nekrolog:
Zitator: Sie war ein eigenes, einziges Wesen. Man musste sie ganz oder gar nicht lieben. Diese Gewalt, das Herz im Mittelpunkt zu treffen, behielt sie bis ans Ende. O, etwas der Art kommt nie wieder.